Zum Tod von Hans-Thies Lehmann

Ein persönlicher Nachruf von Prof. Dr. Günther Heeg, Direktor des CCT

Das Centre of Competence for Theatre (CCT) trauert um Hans-Thies Lehmann. Der Theaterwissenschaftler, der das Nachdenken über Theater und die Theaterpraxis über Jahrzehnte beeinflusst und inspiriert hat, ist am 16. Juli 2022 im Alter von 77 Jahren in Athen gestorben.

Mit ihm verliert das CCT einen engagierten Helfer und Unterstützer, der in der Gründungsphase und später als Mitglied im künstlerisch-wissenschaftlichen Beirat dem Zentrum mit Rat und Tat zur Seite stand. Mehr noch verlieren wir mit ihm den spiritus rector unserer wissenschaftlichen Arbeit. Denn welche eigenständigen Wege die Forschungsprojekte des CCT auch nehmen, immer begleitet sie der stumme Dialog mit den Arbeiten von Hans-Thies Lehmann. Ich persönlich verliere mit ihm einen Freund und Mitdenker, der mich an die vierzig Jahre meines Lebens über Höhen und Tiefen begleitet hat.

Das erste Buch, das ich von Hans-Thies Lehmann in die Hände bekommen habe, zeigte auf dem Umschlag das Portrait eines jungen Mannes Anfang Dreißig mit schmalem Gesicht, der sich an die Brille fasst, wie um sie zurechtzurücken und besser sehen zu können. Zu sehen ist eine mit Fingerspitzengefühl ausgeführte sorgfältige Geste, deren Zartheit noch durch den Kontrast einer klobigen Zigarre unterstrichen wird, die wie fremd und vergessen zwischen dem Zeige- und Mittelfinger der rechten Hand steckt und dort vor sich hin qualmt. Der Blick des Portraitierten ist konzentriert auf die Geste, ein schwaches Lächeln verrät, dass er sich deren Schönheit wohl bewusst ist. Das Bild zeigt den jungen Brecht, es könnte aber auch der junge Lehmann sein, der hier die Geste des Lesens vormacht. „Text und kollektives Lesen“ lautet der Untertitel des zusammen mit Helmut Lethen verfassten Bandes über die Gedichte von Brechts Hauspostille. Lesen heißt hier nicht interpretieren, um den Sinn dingfest zu machen. Vorgeführt wird eine offene, unabgeschlossene und unideologische Lektüre, in der jede Stimme, jeder Buchstabe, jede Nuance des Textes zählen. Erschienen ist dieses Buch 1978, es enthält in nuce alle Antriebe, Haltungen und Denkbewegungen, die das Schreiben, von Hans-Thies Lehmann auszeichnen.

Lehmanns bekanntestes Buch, Das postdramatische Theater von 1999, hat seinen internationalen Ruhm begründe. Mittlerweile liegt es in mehr als 25 Übersetzungen vor. Nicht von oben kategorisierend zugreifend, sondern aus Theater-Erfahrung heraus hat er darin Entwicklungen und Charakteristika eines Gegenwartstheaters beschrieben, dessen Künste nicht länger im Dienst des Dramas stehen. Dabei ist es ihm gelungen, der Falle der Entgegensetzung von „neu“ und „alt“, dramatischem und postdramatischem Theater zu entgehen. Der Analytiker des postdramatischen Theaters war zugleich auch ein intimer Kenner und Theoretiker der griechischen Tragödie und der tragédie classique. Sein über 700 Seiten umfassendes Buch Tragödie und dramatisches Theater von 2013 zeigt die Summe seiner langjährigen Befassung mit diesem Thema.

Vieles wäre zu sagen über seine Auseinandersetzung mit dem Verhältnis von Theater und Politik, die in Das Politische Schreiben von 2002, die sich in Essays zu Theatertexten von Sophokles, Shakespeare, Kleist, Büchner, Bataille und anderen niedergeschlagen hat. Von größter Bedeutung war für ihn auch die Begleitung, Analyse und Verbreitung der Arbeiten von Heiner Müller. Das zusammen mit Patrick Primavesi herausgegebene Heiner Müller Handbuch (2003) kann stellvertretend für andere Arbeiten zu Heiner Müller stehen.

Im „Dialog mit den Toten“ (H. Müller) war Bertolt Brecht bis zum Schluss Hans-Thies Lehmanns erster Gesprächspartner. Brechts Gedichte, Stücke und Texte konnte er auswendig zitieren, eine Wegzehrung auch für die dunklen Zeiten seiner Krankheit. Einer der schönsten Texte von Lehmann ist der „Brechtblock“, der auf mehreren engbedruckten Seiten lediglich aus einer Zusammenstellung von Brecht-Zitaten besteht. Und was setzt Hans-Thies Lehmann darin an den Schluss? Das Ende von Leben des Galilei, in der der halbblinde Galilei seine Tochter fragt: „Wie ist die Nacht?“ Virginia (am Fenster): „Hell“.